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Unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotential

Das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial umfasste im Jahr 2020 insgesamt etwa 2.000 Personen (2019: etwa 2.000 Personen). Damit ist ein erheblicher Teil der dem LfV Sachsen bekannten Rechtsextremisten nicht in Parteien oder anderweitigen Strukturen eingebunden, sondern agiert trotz seiner rechtsextremistischen Gesinnung losgelöst von festen Szenegruppierungen.

Bei diesem Spektrum handelt es sich mehrheitlich um Personen, die als rechtsextremistische Straftäter – auch mit Gewaltbezug – bekannt sind oder an rechtsextremistischen Szeneveranstaltungen, wie beispielsweise Konzerten, teilnehmen. Darüber hinaus sind sie auch Teil der rechtsextremistischen, gewaltorientierten Fußball- und Kampfsportszene. Diese Personen eint eine hohe Mobilisierungskraft vor allem im Zusammenhang mit überregionalen Musik-, Kampfsport- oder sonstigen für die Szene relevanten Veranstaltungen. Im Umfeld einer jeden rechtsextremistischen Gruppierung gibt es stets auch ein feststellbares unstrukturiertes Personenpotenzial. Dieses wird ideologisch von den rechtsextremistischen Gruppierungen beeinflusst und verhilft diesen regelmäßig zu entsprechenden Teilnehmerzahlen bei den genannten Veranstaltungen. Unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial kann man somit auch als wichtigen Multiplikator bezeichnen. Nicht selten lockern sich über Jahre fest strukturiert gewesene Gruppierungen so weit auf, dass sie in den Bereich des unstrukturierten Personenkreises zurückfallen. Bisweilen sind sie nahezu unauffällig, um dann plötzlich zu bestimmten Anlässen wieder aktiv zu werden und beispielsweise über die Sozialen Medien ihre Mobilisierungskraft unter Beweis zu stellen.

Die unstrukturierte rechtsextremistische Szene bildet jedoch nicht nur die „Mobilisierungsmasse“ für Veranstaltungen anderer rechtsextremistischer, auch strukturierter Gruppierungen bzw. rechtsextremistischer Kampagnen, sondert dient vielmehr auch als Nährboden für die Bildung neuer Gruppierungen. Vor allem bei den überregional bedeutenden Ereignissen bezüglich der asylfeindlichen Ereignisse 2015 in Freital und Heidenau (beide Lkr. Sächsische Schweiz-Osterzgebirge), in Bautzen 2016 sowie in Chemnitz 2018 zeigte sich das unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial in hoher Zahl. Bei diesen Veranstaltungen waren öffentlich gezeigte organisatorische Bezüge zu fest strukturierten rechtsextremistischen Gruppierungen kaum erkennbar. Stattdessen trugen die Teilnehmer aus dem unstrukturierten Spektrum Textilien mit szenetypischen Aufschriften. Insbesondere die Ereignisse in Chemnitz im Jahr 2018 verdeutlichten, wie öffentlichkeitswirksam und für die Zivilgesellschaft provokativ sich Mobilisierungsfähigkeit und Gewaltbereitschaft des unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzials bei einem konkreten Anlass auswirken können.

Insbesondere dieses asylfeindliche Geschehen hat wiederholt gezeigt, dass sich – bei einem für Rechtsextremisten geeigneten Initialereignis – aus unstrukturierten Rechtsextremisten mit hoher Dynamik auch militant ausgerichtete Gruppierungen[1] bilden können. So entstanden aus dieser Szene heraus in den Jahren 2014 und 2015 die Oldschool Society[2] und die Freie Kameradschaft Dresden[3]. Auch zur rechtsterroristischen Gruppierung Revolution Chemnitz[4] stießen 2018 Szeneangehörige hinzu, die zuvor dem unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzial zuzuordnen waren.

Die Angehörigen des unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotenzials handeln impulsiv, situativ bedingt und spontan. Diesem Handeln liegen, anders als bei Mitgliedern rechtsextremistischer Gruppierungen, in der Regel keine ausdifferenzierten ideologischen und strategischen Überlegungen zugrunde. So gingen bei den größeren Ereignissen der letzten Jahre die Konfrontationen und Gewalttaten gegen Sicherheitskräfte und den politischen Gegner zumeist von dieser Personenkategorie aus.

Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Schlagkraft dieses Personenpotenzials hängt vor allem davon ab, ob es von einer Ereignisdynamik zusammengeführt wird, die ein einheitliches Agieren begünstigt. Darüber hinaus hängt der von einzelnen rechtsextremistischen Gruppierungen oder Einzelpersonen ausgehende Gefährdungsgrad wiederum entscheidend davon ab, ob sie große Teile des unstrukturierten Personenpotenzials für ihre Aktivitäten – beispielsweise eine Versammlung – gewinnen können bzw. ob die Gruppierung oder Einzelperson, die für die Teilnahme an einem Ereignis aufgerufen hatte, von der unstrukturierten Szene als „Führung“ anerkannt wird. Feste rechtsextremistische Gruppierungen und das unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial sind insoweit in gewisser Weise voneinander abhängig, wenn sie eine bestimmte, öffentlichkeitsrelevante Strahlkraft bei einer Aktivität entfalten wollen: Die Unstrukturierten benötigen mitunter ein Ereignis, um sich „austoben“ zu können, und die Strukturierten brauchen „Mobilisierungsmasse“.

Innerhalb des unstrukturierten Personenpotenzials ist der Kampfsport sehr beliebt. Abseits von größeren Veranstaltungen nutzen Rechtsextremisten lokale, oft nicht der Szene zugehörige „Gyms“ (Sportstudios), um sich verschiedene Kampfsporttechniken anzueignen. Kampfsportveranstaltungen und „Gyms“ bieten rechtsextremistischen Parteien und vor allem Neonationalsozialisten auf unkomplizierte Art und Weise die Möglichkeit, Kontakt mit unstrukturierten rechtsextremistischen Personen aufzunehmen und diese für ihre eigenen extremistischen Aktivitäten zu begeistern.

Unstrukturierte Rechtsextremisten leben ihre rechtsextremistische Gesinnung hauptsächlich bei alltäglichen gesellschaftlichen Aktivitäten aus. Dabei kommt ihnen eine hohe propagandistische Bedeutung zu. Ihr Reden und Handeln sowie Kleidung und Auftreten lassen in der Regel unschwer erkennen, wo sie sich ideologisch verorten. Da sie eher erlebnisorientiert agieren, tragen sie ihre Gesinnung in verschiedenste gesellschaftliche Bereiche, z. B. in Vereine oder Volksfeste. Durch ihre Präsenz kann es immer wieder zu spontanen Auseinandersetzungen mit und Gewalttaten gegen Menschen mit Migrationshintergrund oder politischen Gegnern sowie zu rechtsextremistischen Vorfällen auf Stadt-, Dorf-, Volks- oder Vereinsfesten kommen.

Darüber hinaus ist das unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial hinsichtlich seiner Größe und der damit verbundenen Kaufkraft ein wichtiger Abnehmer für die rechtsextremistische Konzert- und Vertriebsszene. Sie bildet das Gros der Konzertteilnehmer und Konsumenten rechtsextremistischer Merchandising-Artikel und lenkt durch ihr Nachfrageverhalten auch die Ausrichtung des Angebotes rechtsextremistischer Vertriebe[5].

Im virtuellen Raum stammen eine Vielzahl an rechtsextremistischen Hasspostings, Diffamierungen, Verleumdungen und Beleidigungen in Foren, Chats und Sozialen Medien zum Großteil aus diesem Bereich der rechtsextremistischen Szene. Auch ist dieser für die Verbreitung verschiedenster Verschwörungstheorien empfänglich. Mit der Corona-Pandemie verschärfte sich diese Problematik.

Aufgrund der coronabedingten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen fanden im Berichtsjahr deutlich weniger, für diesen Personenkreis interessante Ereignisse statt, weshalb eine Vielzahl von Aktivitäten ins Internet verlagert wurde. Die Corona-Thematik war für dieses Personenspektrum bestens geeignet, Verschwörungstheorien im Internet und den Sozialen Medien zu verbreiten und damit rechtsextremistische Ideologie-Narrative zu bedienen. Es ist damit mitverantwortlich für das vermehrte Einsickern extremistischer Ansichten in die Mitte der Gesellschaft. Die Corona-Thematik begünstigte damit die Bildung sog. „Mischszenen“ aus ganz unterschiedlich motivierten und sozialisierten Menschen – vom Impfgegner über den Esoteriker bis hin zum gewaltorientierten Rechtsextremisten.

Damit wurde im Berichtsjahr abermals deutlich, dass der Verfassungsschutz in Bezug auf die Beobachtung der unstrukturierten, rechtsextremistischen Szene u. a. in Verbindung mit den vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten Sozialer Medien vor gestiegene Anforderungen gestellt ist.[6]

 

[1] vgl. Beitrag II.2.6 Militanter Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus

[2] vgl. Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2015, S. 146 f.

[3] vgl. Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2015, S. 127 ff.

[4] vgl. Beitrag II.2.6 Militanter Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus 

[5] vgl. Beitrag II.2.4.6 Vertrieb rechtsextremistischer Produkte

[6] vgl. Beitrag II.2.10 Ausblick

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