AUTONOME
Die Autonome Szene ist eine äußerst heterogene Strömung innerhalb des Linksextremismus, der es an einer Organisation mit klaren Strukturen sowie einer einheitlichen ideologischen Basis fehlt. Zersplittert in unzählige Kleingruppen steht das Individuum und seine Selbstverwirklichung im Zentrum autonomer Politik. Weltanschaulich-politisch verfolgt diese Szene keine dogmatische Linie, sondern versteht sich als Fundamentalopposition und Basisbewegung. Ihrem Selbstverständnis entsprechend orientieren sich Autonome an anarchistischen Ideologiefragmenten und wenden sich von diesem Ansatz ausgehend gegen jegliche Form von Herrschaft, Organisation und Hierarchie. Demzufolge lehnen sie die Gewaltenteilung und einen Staat ab, in dem eine demokratisch legitimierte Mehrheit regiert und Minderheitenrechte geachtet werden. Angestrebt wird die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Autonome bekämpfen auch die von ihnen als »kapitalistisch« bezeichnete Gesellschaftsordnung. Ihnen geht es dabei nicht um eine fundamentale Kapitalismuskritik, sondern vielmehr um eine revolutionäre Überwindung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Ihr Weltbild und ihre Weltanschauung sind in erster Linie von einer destruktiven Anti-Haltung (antistaatlich, antiautoritär) geprägt. Jenseits von Forderungen nach »Selbstbestimmung« und »herrschaftsfreien Verhältnissen« verbindet die Autonomen ihre Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und das Bekenntnis zu »revolutionärer Gewalt«, die überwiegend in Form von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen ausgeübt wird.
Neben den »klassischen« Autonomen etablierten sich sowohl bundesweit als auch in Sachsen sog. Postautonome. Diese präsentieren sich moderater und streben eine Zusammenarbeit in überregionalen Bündnissen an, denen sowohl andere linksextremistische Organisationen als auch Nichtextremisten angehören können. Bündnisse sollen eine kontinuierlichere politische Arbeit mit dem Ziel der Schaffung einer breiten Massenbasis sicherstellen. Postautonome Gruppen sprechen sich für die Beibehaltung militanter Konzepte aus, legen allerdings Wert auf deren Vermittelbarkeit außerhalb der eigenen Klientel.
Für Autonome ist Gewaltausübung zur Durchsetzung politischer Ziele und als Symbolhandeln zentral. Gewaltbereitschaft ist ein identitätsstiftender und prägender Bestandteil der Autonomen Szene. Straftaten werden in Strategiepapieren und Diskussionen gerechtfertigt. Durch ihre Gewaltgeneigtheit unterscheiden sich die Autonomen von anderen Linksextremisten.
Autonome sehen sich zum einen als Opfer von Gewalt sowohl von staatlicher Seite als auch von Seiten des politischen Gegners. Insofern halten sie ihre eigene Gewaltausübung gegen Sachen und Personen für legitim. Zum anderen gibt es aus ihrer Sicht bestimmte politische Anliegen, die den Einsatz von Gewalt generell rechtfertigen. Prägend für die Autonome Szene sind unterschiedliche Auffassungen über die Bestimmung der Ziele und die Angemessenheit der gewaltsamen Mittel, die in wiederkehrenden »Militanzdebatten« sichtbar werden.
Ereignisgeschehen im Hinblick auf die inhaftierten und untergetauchten Linksextremisten des »Budapest-Komplexes«
Während des jährlich wiederkehrenden Treffens europäischer Rechtsextremisten in Budapest (Ungarn) zum sog. »Tag der Ehre« kam es im Februar 2023 zu mehreren linksextremistisch motivierten Körperverletzungsdelikten zum Nachteil vermeintlicher Veranstaltungsteilnehmer. Bei einem Großteil der identifizierten Tatverdächtigen handelt es sich um deutsche Staatsangehörige, welche im Anschluss an ihre Taten für längere Zeit »untergetaucht« waren. Die linksextremistische Szene steht solidarisch hinter den Tatverdächtigen und ihren Handlungen. Im Sinne ihres militanten antifaschistischen Kampfes wird Straffreiheit für die Beschuldigten gefordert; die rechtsstaatlichen Ermittlungen werden als »Repression« diffamiert.
Polizeiliche Ermittlungen führten schließlich schrittweise zur Festnahme mehrerer Tatverdächtiger. Am 11. Dezember 2023 wurde in Berlin ein Haftbefehl gegen eine Person vollstreckt und deren Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Dresden angeordnet. Insbesondere die Gruppierungen Ermittlungsausschuss Dresden (EA Dresden) und Anarchist Black Cross Dresden (ABC Dresden) organisierten monatliche Solidaritätskundgebungen für die tatverdächtige Person, die in der Szene den Namen »Maja« trägt. Der Slogan »Antifaschismus ist nicht kriminell, sondern legitim und notwendig« zierte mehrfach ihre Mobilisierungsaufrufe und vereinte für diesen Anlass die Autonome mit der Anarchistischen Szene.
Auf Grundlage eines europäischen Haftbefehls wurde der Tatverdächtigte am 28. Juni den ungarischen Sicherheitsbehörden überstellt. Die linksextremistische Szene in Dresden, initiiert durch EA Dresden und ABC Dresden, kündigte in diesem Zusammenhang eine »Tag X+1«-Demonstration gegen die Auslieferung an. Im Mobilisierungsaufruf hieß es: »Hat das Berliner Gericht so entschieden um an Maja ein Exempel zu statuieren? […] Um an einer*einem linken Antifaschist*in mal grundsätzlich zu zeigen, was es für Konsequenzen hat, sich gegen Nazis zu stellen? […] Freiheit für Maja, Hanna, Ilaria, Tobi und alle anderen Antifaschist*innen! Alle zusammen gegen den Faschismus!«. Die autonomen Gruppierungen Rotes Dresden und Undogmatische Radikale Antifa Dresden (URA Dresden) schlossen sich in den sozialen Medien ebenfalls der Mobilisierung an. Die URA Dresden prangerte diesbezüglich die »anhaltende Repressionswelle gegen organisierte Antifaschist:innen« an. An dem durch die Dresdner Innenstadt verlaufenden linksextremistischen Demonstrationszug beteiligten sich schließlich ca. 300 Personen. Die Teilnehmer zeigten Transparente mit den Aufschriften »Free Maja – Keine Auslieferung nach Ungarn. Freiheit für alle Antifas«, »Solidarisch wie noch nie – antiautoritäre Perspektiven erkämpfen« und »Wir bleiben dabei – Antifaschismus ist unsere Antwort gegen Staat, Nation und Volksgemeinschaft«. Der Aufzug musste durch die polizeilichen Einsatzkräfte mehrfach wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot gestoppt werden.
Auch in Leipzig wurden Aktionen durchgeführt, um gegen die Auslieferung zu protestieren. Für den 6. Juli kündigte die Szene eine Demonstration unter dem Motto »No Extradition – Free Maja« an. In Beiträgen auf der linksextremistischen Internetseite de.indymedia.org wurde verdeutlicht, dass man »keinerlei Vertrauen in ein rechtsstaatliches Verfahren, nicht hier oder sonst wo« habe und somit die Forderung »Freiheit und Glück für alle Antifas« das zentrale Anliegen der Szene bleibe. Zudem erklärten die anonymen Verfasser, dass »Militanz ein legitimes und notwendiges Mittel« sei. Bereits in den Nachtstunden des 3. Juli zogen ca. 30 vermummte Linksextremisten durch Leipzig-Plagwitz, zündeten Pyrotechnik, warfen einen Pflasterstein gegen ein Straßenbahnhäuschen und trugen ein Transparent mit der Aufschrift »Free Maja«. In einem Artikel auf de.indymedia.org wurden Fotos dieser unangemeldeten Spontanversammlung veröffentlicht und auf die Demonstration am 6. Juli mit den Worten »Tod und Hass der Soko LinX!« verwiesen.
Der Demonstrationszug am 6. Juli zählte ca. 550 Teilnehmer und war unterteilt in drei Blöcke mit den Namen »#NoExtradition – Bringt Maja zurück«, »Queerfeministisch kämpfen« und »Antifa bleibt Handarbeit«. In mehreren Redebeiträgen wurde die Rücküberstellung des Inhaftierten aus Ungarn und dessen Freilassung gefordert. Des Weiteren wurde die von der Szene wahrgenommene staatliche »Repression« gerügt. Die Demonstrationsteilnehmer skandierten u. a. die Parolen »Free Maja« und »Tod und Hass der Soko LinX«. Zudem wurden eine Vielzahl von Transparenten beispielsweise mit den Slogans »Freiheit für Maja – Für eine sofortige Rücküberstellung«, »Antifa in die Offensive«, »Autonome Antifa gegen Repression – Her zu uns«, »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Gegen Nazis, Staat und Kapital – kämpfe mit in der autonomen Antifa«, »Antifa bleibt Handarbeit«, »Police partout – Justice Nulle Part – Solidarität gegen Repression« und »Freiheit & Glück allen Gefangenen & Untergetauchten – Militanter Antifaschismus bleibt legitim!« gezeigt. Die linksextremistische Gruppe Prisma – Interventionistische Linke Leipzig (Prisma) veröffentlichte in den sozialen Medien ein Foto ihres im Demonstrationszug mitgeführten Transparentes »Keine Zeit zu resignieren – für einen konsequenten Antifaschismus heute und morgen«. Polizeiliche Einsatzkräfte mussten die Versammlung mehrfach wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot stoppen. Während der Demonstration zündeten mehrere Personen Pyrotechnik vom Dach eines Mehrfamilienhauses und zeigten ein Banner mit der Aufschrift »Deutsche Justiz überwinden – Free Maja – ACAB«.
In den Morgenstunden des 7. Juli warfen unbekannte Täter Steine gegen den Leipziger Polizeistandort Wiedebach-Passage und zündeten vor dessen Eingang mehrfach Pyrotechnik. An die Glasfront wurde zudem das Graffiti »Free Maja« gesprüht.
Außerhalb der Autonomen Szene solidarisierten sich auch Dogmatische Linksextremisten mit »Maja«. So veröffentlichte beispielsweise das kommunistische Kollektiv Zwickau ein Gruppenfoto, auf dem Personen Transparente mit einschlägigen Aufschriften, wie »Free [Hammer und Sichel-Zeichen] Maja« und »Freiheit für alle politischen Gefangenen«, zeigten und Pyrotechnik zündeten. Die Ermittlungsverfahren gegen die inhaftierten und untergetauchten Linksextremisten beschäftigten die Szene zudem im Rahmen von Vortragsveranstaltungen. Dementsprechend wurde der Vortrag »Budapest Calling – Antifas in Haft und auf der Flucht«, der die Geschehnisse rekapitulieren und aktuelle Handlungsanweisungen für die Szene geben sollte, anlässlich der »Anarchistischen Tage« im September in Dresden beworben. Wenige Tage später stand dieser Vortrag zudem auf dem Programm des »Antifaschistischen Jugendkongresses« (Juko) in Chemnitz.
Für weitere Empörung in der Autonomen Szene sorgte am 8. November die Festnahme des langjährig untergetauchten Linksextremisten Johann G. in Thüringen. Er befindet sich seitdem in Untersuchungshaft in der JVA Dresden. Die ihm vorgeworfenen Straftaten (mehrere Fälle der Mitgliedschaft in kriminellen Vereinigungen gemäß § 129 Abs. 1 StGB, gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzungen gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 StGB, etc.) beziehen sich sowohl auf das bereits erstinstanzlich vor dem Oberlandesgericht Dresden behandelte »Antifa Ost«-Verfahren gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte, sowie auf das Ermittlungsverfahren im »Budapest-Komplex«. Der Rote Hilfe e. V . prangerte die Inhaftierung als Zeichen »staatlicher Verfolgungswut« an: »Mit immer neuen Verhaftungen gehen die Repressionsorgane gegen Antifaschist*innen vor, die in Thüringen und Sachsen gegen Nazis aktiv waren. […] Die Verhaftungen reihen sich ein in einen staatlichen Frontalangriff gegen die antifaschistische Bewegung.«
Auf die Untergetauchten und ihre Handlungen für den militanten antifaschistischen Kampf wurde über das Jahr hinweg mehrfach in Tatbekenntnissen zu Brandstiftungen Bezug genommen.113 Dementsprechend endeten die Ausführungen eines am 13. Dezember veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreibens auf der auch von Linksextremisten genutzten Internetseite »knack.news« wie folgt: »Wir grüßen alle Antifas, die trotz der Repression weiter aktiv sind und Nazis und Rechte überall konfrontieren – ob auf der Straße, in den Betrieben, den Medien oder in der Familie. Antifa bleibt notwendig und Handarbeit. Besonders wärmende Grüße an Nanuk, Maja, Hannah, Johann und alle anderen hinter den Knastmauern und die, die im Untergrund Zuflucht finden mussten!« 114 Unbekannte Täter hatten zuvor ein Fahrzeug in Leipzig in Brand gesetzt, dessen Nutzer mutmaßlich Verbindungen in die rechtsextremistische Szene unterhält.
Die Autonome Szene dominiert den Linksextremismus im Freistaat Sachsen. Ihr gehörten im Berichtsjahr ca. 420 Personen an (2023: ca. 450 Personen). Dies entspricht einem Anteil von etwa 50 Prozent an allen linksextremistischen Bestrebungen in Sachsen. Regional und bundesweit bleibt die Autonome Szene Leipzig neben den Szenen in Berlin und Hamburg ein Schwerpunkt autonomer Aktivitäten. Die Autonome Szene in Sachsen betrachtet auch weiterhin die Begehung schwerster Straftaten als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Wesentlich stärker als in der Vergangenheit beruft sie sich inzwischen auf anarchistische Wurzeln, ohne dabei grundlegende autonome Aktionsfelder aufzugeben. Die Grenzen zwischen autonomen und anarchistischen Strömungen verschwimmen zunehmend. Diese Tendenz machte sich vor allem bei Demonstrationen bemerkbar. Dort zeigten sich anstelle von »autonomen Blöcken« vermehrt »anarchistische Blöcke«, die u. a. mit entsprechenden Transparenten auf sich aufmerksam machten. Durch diese breitere ideologische Basis soll das Fundament für weitreichende regionale, überregionale und internationale Vernetzungen gelegt werden.
Die Unterstützung der untergetauchten Linksextremisten im »Budapest-Komplex« setzte sich sachsenweit fort. Die Solidarisierung mit den Tatverdächtigen stellt eine Kontinuität zum Prozess gegen Lina E. und weitere Angeklagte dar. Somit sah sich die Autonome Szene weiterhin in den Themenfeldern »Antifaschismus« und »Antirepression« am stärksten bestätigt.
Insgesamt konnte ein starker Rückgang der Aktivitäten von Autonomen verzeichnet werden, einhergehend mit einem marginal geringeren Personenpotenzial ohne signifikante regionale Veränderungen. Diese Entwicklung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf andauernde polizeiliche Ermittlungsverfahren zurückzuführen, welche die Szene in ihrem gewalttätigen Handlungsspielraum einschränken. Dennoch übt die Szene weiterhin eine Anziehungskraft auf jüngere Menschen aus. Zugleich war im Berichtsjahr festzustellen, dass das dogmatische Spektrum einen höheren Zuwachs insbesondere an jungen Szeneangehörigen verzeichnete. Möglicherweise war deren konstantes Aktionsniveau gepaart mit einem strukturierten und kämpferischen Auftreten sowohl in den sozialen Medien als auch im Versammlungsgeschehen ausschlaggebend für diese Entwicklung.